Am Nullpunkt
Über Büchners Lenz und den Beginn einer Geschichte des Wahnsinns — von Katharina Rösch

Georg Büchner hatte, wie viele seiner Zeitgenoss*innen, ein doppeltes Interesse an der Person Jakob Michael Reinhold Lenz. Zum einen gehörte Lenz zu jener jungen Autorengeneration des Sturm und Drang, die in den 1770er Jahren Autoritäten in Frage stellte, soziale Ungleichheiten anprangerte und der religiös disziplinierten Vernunftgesellschaft eine Entfesselung des Gefühls entgegensetzte – was in Zeiten der Restauration durchaus einen Nerv traf.
Zum anderen machte sich die Faszination für Lenz an seiner tragischen Biografie fest. Erst als Hoffnungsträger gehandelt, dessen Name in einem Atemzug mit dem Goethes fiel, kam sein Absturz für viele überraschend. Nach dem Aufenthalt in Waldbach »lebte er hin«, so der letzte Satz in Büchners Novelle. An seinen Erfolg als junger Mensch konnte er nie wieder anknüpfen – nicht in Riga, wo er sich vergeblich als Direktor einer Schule bewarb und auch nicht in Russland, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte. Auf einer Straße in Moskau wurde er im Alter von 41 Jahren tot aufgefunden.
Zum anderen machte sich die Faszination für Lenz an seiner tragischen Biografie fest. Erst als Hoffnungsträger gehandelt, dessen Name in einem Atemzug mit dem Goethes fiel, kam sein Absturz für viele überraschend. Nach dem Aufenthalt in Waldbach »lebte er hin«, so der letzte Satz in Büchners Novelle. An seinen Erfolg als junger Mensch konnte er nie wieder anknüpfen – nicht in Riga, wo er sich vergeblich als Direktor einer Schule bewarb und auch nicht in Russland, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte. Auf einer Straße in Moskau wurde er im Alter von 41 Jahren tot aufgefunden.

Über die Ursachen für den psychischen Zusammenbruch wurde zu Büchners Zeiten heftig gestritten. In Lenz’ Biografie schien für viele ein Typus auf: der des wahnsinnigen Genies, der als literarisches Motiv spätestens seit Goethes »Werther« Konjunktur hatte. Nicht wenige glaubten daher an eine unglücklich verlaufene Liebe. Andere erklärten die Mentalität des »Sturm und Drang«, die »Überspannung dieser Periode«, zum Motiv. Pfarrer Oberlin, erster Zeuge der Ereignisse, führte Lenz’ Krankheit auf dessen »herumschweifende Lebensart« und seinen »Ungehorsam gegen seinen Vater« zurück.
Büchner wiederum muss die Dokumente komplexer gedeutet haben. Seine Erzählung bleibt mit Begründungen derart im vagen, dass die Unerklärbarkeit von Lenz’ Handeln zum Prinzip wird. Damit wird auch die Möglichkeit einer psychischen Erkrankung plausibel, die allein physische Ursachen hat. Jeder Versuch, kausale Zusammenhänge oder gar einen metaphysischen Sinn herzustellen, scheitert bei Büchners »Lenz«. Entstanden ist eine pathologische Introspektion, in die der Medizinstudent und Sohn eines Gerichtsmediziners aktuelle Diskurse über Psychologie und Psychiatrie miteinbezog – für die damalige Zeit, in der psychisches Leiden noch als Strafe Gottes für irdische Sünden gesehen wurde, ein innovativer, negativ formuliert, ein ketzerischer Ansatz.

Der moderne Mensch ist sich bewusst, dass es psychische Krankheiten gibt. Er kennt verschiedene Begriffe dafür und weiß welche biochemischen Prozesse sich im Gehirn abspielen, wenn ein Mensch »durchdreht«. Er ist mit einer Vielzahl klingender Namen von Medikamenten vertraut und weiß verschiedene Therapieformen zu klassifizieren. Zwischen der hyperreflexiven Selbstbeobachtung der eigenen Stimmungsschwankungen und der Verpflichtung zum Glücklichsein ist er wie eingeklemmt.
Ein Mensch wie Lenz aber wusste nur wenig über Psychologie, die erst allmählich als Disziplin institutionalisiert wurde. Seinerzeit wurden Manie und Melancholie als Krankheitsbilder populär, es wurden psychiatrische Behandlungspraktiken entwickelt und Häuser eröffnet, in denen die Kranken interniert wurden. Vor allem aber bewirkten die medizinischen Entwicklungen der damaligen Zeit eine fundamentale Veränderung im Denken: Infolgedessen wurde der Wahnsinn als gesellschaftliche und soziale Konstruktion überhaupt erst geschaffen. Wie Foucault in »Wahnsinn und Gesellschaft« (1961) zeigt, entstand so »die Zäsur, die die Distanz zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft herstellt« – eine Trennung also, die für frühere Gesellschaften noch keine Rolle spielte und ohne die Aufklärung und das anbrechende Zeitalter der Vernunft wohl auch kaum stattgefunden hätte.
So betrachtet befand sich Lenz also an einem Nullpunkt der Geschichte, der für seine Situation nicht unglücklicher hätte gewählt sein können. Er lebte zu früh, um sich selbst als psychisch Kranken zu erkennen, und stand also unter dem Zwang, Erklärungen für seinen unbegründeten Schmerz zu finden, für die er sich nur bei der christlichen Logik von Strafe und Leiden, Sünde und Schuld bedienen konnte. Zu spät aber lebte Lenz, um noch als im positiven Sinne Narr oder Erleuchteter zu gelten und so zwischen den Kategorien »wahnsinnig« und »gesund« durchzuschlüpfen, die sich gerade zu stabilisieren begannen und die unser Denken seitdem nicht mehr verlassen haben.
Ein Mensch wie Lenz aber wusste nur wenig über Psychologie, die erst allmählich als Disziplin institutionalisiert wurde. Seinerzeit wurden Manie und Melancholie als Krankheitsbilder populär, es wurden psychiatrische Behandlungspraktiken entwickelt und Häuser eröffnet, in denen die Kranken interniert wurden. Vor allem aber bewirkten die medizinischen Entwicklungen der damaligen Zeit eine fundamentale Veränderung im Denken: Infolgedessen wurde der Wahnsinn als gesellschaftliche und soziale Konstruktion überhaupt erst geschaffen. Wie Foucault in »Wahnsinn und Gesellschaft« (1961) zeigt, entstand so »die Zäsur, die die Distanz zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft herstellt« – eine Trennung also, die für frühere Gesellschaften noch keine Rolle spielte und ohne die Aufklärung und das anbrechende Zeitalter der Vernunft wohl auch kaum stattgefunden hätte.
So betrachtet befand sich Lenz also an einem Nullpunkt der Geschichte, der für seine Situation nicht unglücklicher hätte gewählt sein können. Er lebte zu früh, um sich selbst als psychisch Kranken zu erkennen, und stand also unter dem Zwang, Erklärungen für seinen unbegründeten Schmerz zu finden, für die er sich nur bei der christlichen Logik von Strafe und Leiden, Sünde und Schuld bedienen konnte. Zu spät aber lebte Lenz, um noch als im positiven Sinne Narr oder Erleuchteter zu gelten und so zwischen den Kategorien »wahnsinnig« und »gesund« durchzuschlüpfen, die sich gerade zu stabilisieren begannen und die unser Denken seitdem nicht mehr verlassen haben.
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